Nicht nur das Sommermärchen in 2006 hat uns Klinsmann mit seiner Elf beschert, sondern auch die Faszienrolle. Sie hat damals ihren Siegeszug in die Sportstätten der Profis wie auch in den Breitensport begonnen und ist inzwischen auch in Privathaushalten zur Behandlung von Schmerzen angekommen. Etwa zur gleichen Zeit rückten die Faszien zunehmend in den Fokus der Wissenschaft; der 1. Internationale Kongress zum Thema fand 2007 in Kanada statt. Federführend dabei war der Humanbiologe und Rolfer Robert Schleip, der inzwischen durch seine Arbeit in der Fascia Research Group in Ulm wesentlich dazu beigetragen hat, dass Faszien sowohl in der Wissenschaftswelt als auch in der Öffentlichkeit aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht sind.
Andrew Tayler Still (1828 -1917), bekannt als der Begründer der Osteopathie, postulierte bereits 1899:
„Die Seele des Menschen mit all ihren Strömen puren Lebenssaftes scheint in den Faszien zu fließen.(…) Ich glaube, dass sich beim Studium der Faszien mehr reichhaltige und goldene Einsichten auftun werden als bei irgendeinem anderen Aspekt des Körpers.“
Die amerikanische Biochemikerin und Osteopathin Ida Rolf (1896-1979) entwickelte aus Ihren Erkenntnissen heraus in den 50er Jahren das nach ihr benannte Rolfing®, eine Behandlung des Bindegewebes zur Veränderung der Körperstatik, da sie die Faszien als „Organ der Form“ betrachtete. Bereits in den 30er Jahren entwickelte in Deutschland die Krankengymnastin Elisabeth Dicke (1884 – 1952) die sogenannte Bindegwebsmassage, die zwar bis heute bei Masseuren und Physiotherapeuten gelehrt, aber aus meiner Sicht völlig unterschätzt und viel zu selten angewendet wird.
Der Wiener Arzt Prof. Dr. Alfred Pischinger (1899-1993) beschrieb eine im Bindegewebe gelegene Grundmatrix als verbindendes Element aller Zellen unter dem Begriff des Systems der Grundregulation und bekräftigt damit A.T. Stills o.g. Aussage.
Der modernen Faszienforschung sei Dank kommen nun immer mehr Erkenntnisse vor allem auf neurophysiologischer und neuroimmunologischer Ebene hinzu, die eigentlich jedem Mediziner oder Therapeuten die Augen öffnen sollten, welches Potential in der genaueren Betrachtung und Behandlung der Faszien liegen. Doch leider scheint das Thema insbesondere bei Schulmedizinern längst nicht angekommen. Was äußerst bedauerlich ist. Denn in der Zukunft werden uns wahrscheinlich neue Behandlungsansätze nicht nur in der Schmerztherapie sondern womöglich auch bei der Therapie von M. Parkinson, Multipler Sklerose oder anderen Autoimmunerkrankungen zur Verfügung stehen. Und vor allem können durch die neuesten Erkenntnisse über die Faszien nun erstmals die Erfolge von Akupunktur, Neuraltherapie, Schröpfen, Bindegewebsmassage, Taping etc. erklärt werden. Von einem weitreichenden Einfluss der Ernährung auf die Gesundheit der Faszien ganz zu schweigen.
Was sind denn nun überhaupt die Faszien?
Beim 1. Internationalen Faszienkongress verständigte man sich auf folgende Definition (s. Wikipedia):
„Faszie (auch Fascie, aus em Lateinischen fascia für „Band“, „Bandage“[1]) bezeichnet die Weichteil-Komponenten des Bindegewebes, die den ganzen Körper als ein umhüllendes und verbindendes Spannungsnetzwerk durchdringen. Hierzu gehören alle kollagenen faserigen Bindegewebe, insbesondere Gelenk- und Organkapseln, Sehnenplatten (Aponeurosen), Muskelsepten, Bänder, Sehnen, Retinacula (sogenannte „Haltebänder“, beispielsweise das den Karpaltunnel bildende Retinaculum flexorum) sowie die „eigentlichen“ Faszien in der Gestalt von „Muskelbinden“[2] wie z.B. die Fascia thoracolumbalis, die den Musculus erector spinae strumpfartig umhüllt.“
Binde – Gewebe, also quasi das Body-Wide-Web!
Die Faszien umhüllen wie ein dichtes, stabiles und gleichzeitig gut dehnbares aber dennoch reißfestes dreidimensionales Netz alle Muskelfasern, Nerven, Blutgefäße und Organe. Es hält sämtliche Strukturen unseres Körpers in Form. Und nicht nur das; dieses hochsensible und körperumspannende Netzwerk dient der inneren und äußeren Kommunikation auf allen Ebenen. In der bereits von A. Pischinger beschriebenen Matrix oder Grundsubstanz, die alle Zellen umspült und miteinander verbindet, enden Lymphgefäße, Arteriolen, Venolen und Nerven, insbesondere auch die Nerven des autonomen Nervensystems.
Das Fasziennetz bzw. Bindegewebe ist damit unser größtes Übertragungsmedium für den Stoffwechsel, unsere Energie- und Informationsleitung und auch unser sensibelstes Organ für die Körperwahrnehmung.
Diese Erkenntnisse machen das Thema so spannend und faszinierend und man kann daher nur Stills o.g. Aussage aufgreifen und staunend weitreichendere Zusammenhänge betrachten.
Wenn wir uns also die Faszien nicht nur rein anatomisch zum Erhalt der Form anschauen, sondern uns mit den neuesten neurophysiologischen Erkenntnissen vertraut machen, sieht man schnell den Zusammenhang von Stress und Schmerz. Die moderne Faszienforschung erschloss den Zusammenhang von autonomen Nervensystem, das für die Autoregulation des Körpers im Stress- bzw Entspannungsmodus zuständig ist, und dem Fasziensystem. Stresshormone wie Kortisol oder Adrenalin haben einen direkten Einfluss auf die Faszien und führen dazu, dass sie nicht mehr ganz so flexibel sind und verkleben. Kommt dann noch Bewegungsarmut dazu, folgt in der Konsequenz der berühmte Rückenschmerz. Bei der Erklärung von schmerzenden Gelenken darf man sich also nicht mehr einfach auf die Bandscheiben oder die arthrotischen Gelenke berufen. Hier wird hoffentlich in nicht allzu ferner Zukunft sowohl bei der Ärzteschaft als auch bei den Betroffenen ein Umdenken stattfinden und sich damit auch die Einstellung zum Umgang mit Schmerz verändern.
Anatomische Über-Sicht bewahren
Manualmediziner oder Osteopathen sehen und behandeln schon lange die sogenannten Verkettungen innerhalb des Fasziensystems. Denn oft findet sich die Ursache für den Schmerz nicht dort wo es weh tut, sondern in weiter weg liegenden Regionen des Körpers. Dafür ist ein allgemeines Verständnis der Faszienanatomie nötig. Seit gut 2 Jahren steht der allererste Atlas zur Anatomie des menschlichen Fasziensystems (Carla Stecco, 2016) zur Verfügung und ich hoffe, dass diese Betrachtung auch bald Einzug ins Medizinstudium hält. Schon vor gut 20 Jahren hat Thomas Myers die „Anatomy Trains“ beschrieben und daraus Faszientechniken etabliert. Vergleicht man diese „Trains“ mit den Akupunktur-Meridianen fällt nahezu Deckungsgleichheit auf. Je tiefer man in die Materie einsteigt, desto mehr Aha-Erlebnisse werden sich finden.
Es geht also beim Thema Faszien nicht nur um die Anwendung der Faszienrolle und das von Robert Schleip mit entwickelte Faszientraining mit Schwingen, Federn, Hüpfen und integrierenden Elementen, sondern vielmehr haben wir endlich Erklärungsmodelle für viele bereits bekannte aber bislang belächelte Therapien und wir dürfen gespannt sein, was uns beim diesjährigen 5. Internationalen Kongress in Berlin an bahnbrechenden Erkenntnissen noch erwartet.
Wie schlagen wir nun den Bogen zur META-Gesundheit?
Bei der von vielen Osteopathen beschriebenen sogenannten Primärläsion handelt es sich um ein im Körper gespeichertes Trauma, das sich über die fasziale Behandlung gut beeinflussen lässt. Auch A. Pischinger beschrieb bereits im Zusammenhang mit der Matrix bzw. Grundsubstanz einen solchen Zusammenhang von traumatisiertem Gewebe und der Speicherung dieser Energie im Bindegewebe und daraus resultierender Krankheit.
Aus Sicht der META-Gesundheit und dem vorangegangen Gesagten können wir uns dem Gewebe – im engeren Sinne den Faszien – sowohl auf körperlicher, als auch mentaler, psychologischer und spiritueller Ebene nähern und behandeln und damit dem Menschen in seiner Ganzheit Rechnung tragen, helfen und unterstützen.
Zur Vertiefung ins Thema:
Sämtliche Veröffentlichungen von Robert Schleip, u.a. „Lehrbuch Faszien“ (2014) und „Faszienfitness“ (2016), s. auch http://www.fasciaresearch.de
„Anatomy Trains“ von Thomas Myers (2015)
„Atlas des menschlichen Fasziensystems“ von Carla Stecco (2016)
Bilder:
[1] Pexels https://pixabay.com/en/exercise-workout-yoga-roller-foam-1284370/
[2] Li W, Ahn A via Wikimedia Commons: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Subcutaneous-Fascial-Bands—A-Qualitative-and-Morphometric-Analysis-pone.0023987.s001.ogv
[3] Imagery From the History of Medicine via Wikimedia Commons: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Acupuncture_chart_300px.jpg